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Bielefelder Screening zur Früherkennung von
Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC)
Autoren: Jansen, H., Mannhaupt, G., Marx, H. & Skowronek, H. (1999);
erschienen im Hogrefe-Verlag, Göttingen.
Das Bielefelder Screening (BISC) ist ein Verfahren zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten,
das bei Vorschulkindern zehn und / oder vier Monate vor Einschulung einsetzbar ist. Es besitzt hohe prognostische
Validität für später auftretende Lese-Rechtschreibschwierigkeiten in den ersten beiden Schuljahren.
Weil das BISC zweimal im Verlauf des letzten Kindergartenjahres eingesetzt werden kann, lassen sich damit auch die
Wirkungen von vorschulischen Präventionsprogrammen überprüfen. (Handbuch, S. 7)
Seit ca. 1975 ist in der internationalen Erforschung der Ursachen von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten eine deutliche
Verlagerung von „visuellen“ zu „auditorischen“, d.h. in der Verarbeitung von gesprochener Sprache bestehenden,
Funktionsmängel zu beobachten.
Die Leistungsbereiche, die aus den gesammelten Befunden der Forschung schliesslich als kritisch für den
Schriftspracherwerb angesehen und in den Aufgaben des BISC repräsentiert wurden, sind:
Phonologische Bewusstheit: Der Schriftspracherwerb erfordert Einsicht in die phonologische Struktur der Sprache und die Analyse und Synthese phonologischer Einheiten. | |
Schneller Abruf aus dem Langzeitgedächtnis: Es muss ein ausreichend schneller Zugang zum phonologischen Code im Langzeitgedächtnis möglich sein. | |
Phonetisches Rekodieren im Kurzzeitgedächtnis: Verbale Informationen im Arbeitsgedächtnis müssen mit hinreichender Genauigkeit phonetisch rekodiert werden können. | |
Visuelle Aufmerksamkeitssteuerung: Die Verarbeitung von Schrift erfordert die
aufmerksamkeitskontrollierte Beachtung von relevanten, die aktive Nichtbeachtung von irrelevanten Informationen
und die Bewusstmachung der Verarbeitungsrichtung (Handbuch, S. 7 f) |
Einer nicht hinreichend ausgebildeten Phonologischen Bewusstheit (a) wie auch Problemen im Aufmerksamkeitsverhalten und Gedächtniszugriff (b bis d) wird gleiches Gewicht in der Entstehung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zugemessen. (S.9)
Entsprechend der im Vorschulalter zu beobachtenden Leistungen lässt sich eine Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne, die an Sprachleistungen anknüpft, die in konkreten, dem Kind vertrauten Spielhandlungen enthalten sind (Reimen, Silbenklatschen), von einer Phonologischen Bewusstheit im engeren Sinne unterscheiden, die explizit die Beachtung und Analyse der Lautstruktur ohne semantische oder sprachrhythmische Bezüge verlangt. Letztere weit eine grössere Nähe zu den im Schriftspracherwerb notwendigen Analyseleistungen auf.
Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne wird im BISC mit den Aufgaben Reimen und Silben-Segmentieren erfasst.
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Zur Erfassung der Phonologischen Bewusstheit in engerem Sinne werden den Kindern die Aufgaben Laut-zu-Wort-Vergleich und Laute-Assoziieren vorgegeben.
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Schneller Abruf aus dem Langzeitgedächtnis: Beim Lesen- und Rechtschreiblernen nehmen die Kenntnisse über Buchstaben und Buchstabenverbindungen ständig zu. Diese Schriftsymbole werden mit lautsprachlichen Einheiten (u.a. Phoneme, Buchstabennamen) verknüpft. Diese gelernten Schrift-Sprach-Verbindungen werden im Verlauf des Schriftspracherwerbsprozesses zunehmend leichter aus dem Gedächtnis abrufbar (automatisiert). Eine Voraussetzung für Lesen und Rechtschreiben ist, dass die Schrift-Sprach-Verbindungen bei entsprechender Reizdarbietung schnell und möglichst unbeeinflusst durch Störinformationen abgerufen werden können. Kinder mit Leseschwierigkeiten haben häufig schwach ausgeprägte Repräsentationen solcher Verbindungen und können sie nicht so schnell abrufen wie gute Lese, wobei dieser Unterschied nicht nur beim schnellen Benennen von Buchstaben, sondern auch beim Benennen vorn Bildobjekten, Zahlen oder Farben festzustellen ist.
Längsschnittstudien zeigen signifikante Beziehungen zwischen der im Vorschulalter erhobenen Abrufgeschwindigkeit und
den Schriftsprachfertigkeiten.
Da ca. 30% der deutschsprachigen Vorschulkinder zehn Monate vor Einschulung über keine Buchstabenkenntnisse verfügen
und ein etwa gleich grosser Anteil nur ein bis zwei Buchstaben beherrscht, eignen sich Buchstaben nicht zur Feststellung
der Abrufgeschwindigkeit im Vorschulalter. Hingegen sind es Grundfarben, die im Vorschulalter nahezu allen Kindern
bekannt sind und bei denen ein automatisierter Abruf bereits unterstellt werden kann (Gilt leider nicht
uneingeschränkt für die von mir getesteten Kinder aus dem Kleinbasel!)
Die Prüfung der Abrufgeschwindigkeit aus dem Langzeitgedächtnis im BISC erfolgt mit der Aufgabe Schnelles-Benennen-Farben (schwarz / weiss / Objekte). Zusätzlich wird die Störanfälligkeit des Abrufprozesses mit der Aufgabe Schnelles-Benennen-Farben (farbig-inkongruente Objekte) überprüft. Nach intensiver Einübung in die Aufgabenbearbeitung erfolgt vor Durchführung dieser beiden Aufgaben eine Farbabfrage.
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Phonetisches Rekodieren im Kurzzeitgedächtnis. Lesen und Schreiben erfordern neben dem automatisierten Abruf gelernter Wissensbestände auch das kurzfristige Präsenthalten von Lauten, Buchstaben, Wörtern und semantischen Einheiten grösseren Ordnung. Diese Informationen müssen so lange im Arbeitsgedächtnis zur Verfügung stehen, bis der Lese- oder Rechtschreibvorgang, z.B. für eine Buchstabenfolge oder ein Wort abgeschlossen ist. Das Bereithalten der beim Lese- oder Schreibvorgang notwendigen Informationen gelingt nur dann angemessen, wenn die Informationen nach Aufnahme in das Kurzzeitgedächtnis hinreichend aktiviert bleiben, die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses nicht überschritten wird (Gedächtnisspanne) und ein rascher und fehlerfreier Abruf aus dem Kurzzeitgedächtnis möglich ist.
Die Gedächtnisspanne kann mit Gedächtnisspannenaufgaben (z.B. Nachsprechen einer unterschiedlichen Anzahl von
Wörtern oder Buchstaben) oder mit dem Nachsprechen von Pseudowörtern unterschiedlicher Länge erfasst werden. Es
besteht eine signifikante Beziehung zwischen der im Vorschulalter erhobenen Gedächtnisspanne und den schulischen
Lese-Rechtschreibleistungen.
Im BISC findet die Aufgabe Pseudowörter-Nachsprechen Verwendung.
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Visuelle Aufmerksamkeitssteuerung. Gerade in der Anfangsphase des Schriftsprachunterrichts ist es wichtig, dass Kinder zwischen relevanten und irrelevanten Informationsanteilen unterscheiden lernen und diese Informationen aufmerksamkeitskontrolliert verarbeiten. Das Kind muss durch sorgfältiges Überprüfen der Stellung und Anzahl der Buchstaben im Wort sowie der Schreibweise von Gross- und Kleinbuchstaben die raumzeitliche Struktur von Schriftsprache internalisieren. Die Beachtung, Verarbeitung und Integration visueller Schriftinformationen sind notwendige Bestandteile jedes Leseprozesses. Überprüft man die für diese Aufgabenstellung relevanten Merkmale oder visuellen Fähigkeiten als Informationsverarbeitungsstile, als Figur-Grund-Wahrnehmung oder Raum-Lage-Orientierung ganz allgemein und nicht spezifisch am Schriftmaterial, so tragen sie nur wenig zu einer Aufklärung der Entstehung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten bei. Bedeutsame Zusammenhänge zwischen inadäquatem visuellen Aufmerksamkeitsverhalten und Leseschwierigkeiten lassen sich jedoch dann nachweisen, wenn ihre Erfassung an Schriftmaterial erfolgt.
Da Vorschulkinder in hohem Masse in der Lage sind, drei- oder vierbuchstabige Wörter zu unterscheiden oder auf
Identität zu prüfen, wenn die Vergleichsvorgänge nicht durch Zeitbegrenzungen eingeschränkt sind, lassen sich ihre
schriftspezifischen Aufmerksamkeitsprozesse untersuchen, auch wenn die Kinder noch nicht unter dem Einfluss des
Schriftspracherwerbs stehen.
Visuelle Aufmerksamkeit wird im BISC mit der Wort-Vergleich-Suchaufgabe geprüft.
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Anmerkung zur Durchführung:
Die Durchführung des BISC dauert i.R. 30 – 45 Minuten, bei der Zweittestung, wenn die Kinder älter sind, ca. 30 Minuten. Für die Auswertung benötigt man pro Test ca. weitere 10 Minuten. Die Durchführung sollte ohne Unterbrechung in einem möglichst ruhigen Umfeld geschehen, ohne dass das Kind von Aussenreizen abgelenkt wird.
Auswertung und Interpretation der Testergebnisse (S. 29 ff)
Die ermittelten Punktwerte für die einzelnen Aufgaben werden dann auf die Vorderseite des Protokollbogens übertragen.
Die Kreuze, die in den dunkel schraffierten Feldern liegen, werden gezählt und ergeben die Summe der Risikopunkte.
Das BISC ist so konzipiert, dass ab vier Risikopunkten die Entwicklung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten als
wahrscheinlich angenommen wird. Im Falle von drei Risikopunkten wird die Möglichkeit der Kompensation durch andere
beteiligte Fertigkeiten angenommen. Von den Lösungsbereichen Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne (Reimen R und
Silben-Segmentieren SS), Phonologische Bewusstheit im engeren Sinn (Laute-Assoziieren LA und Laut-zu-Wort LZW),
Schneller Abruf aus dem Langzeitgedächtnis (Farbabfrage FA, Schnelles-Benennen-Farben SBF 1 und SBF 2), phonetisches
Rekodieren im Kurzzeitgedächtnis (Pseudowörter-Nachsprechen PWN) und Visuelles Aufmerksamkeitsverhalten
(Wort-Vergleich-Suchaufgabe WVS) müssen daher mindestens zwei Bereiche betroffen sein, um eine Risikoklassifikation zu
rechtfertigen.
Bei einer Untersuchung vier Monate vor Einschulung liegt ein Kind mit drei Risikopunkten im Grenzbereich. Das BISC erlaubt keine Profilauswertung auf Aufgabenebene! Ausfälle in einzelnen Aufgaben reichen nicht aus, um ein Risiko von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten festzustellen; das ist nur bei gehäuftem Auftreten von Ausfällen in mindestens zwei Bereichen möglich.
Schlussfolgerung (S. 32)
Besteht bei einem Kind ein Risiko ur Ausbildung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, dann ist eine Förderung dieses
Kindes angezeigt. Nach bisherigem Wissensstand scheint eine intensive und frühe Förderung von Risikokindern (im
Vorschulalter oder gleich zu Beginn der Schulzeit) am ehesten Erfolg zu versprechen.